Repost Februar 2024:
Nachdem ich mit meiner geschätzten Kollegin Tanja Klein eine Podcastfolge zum postraumatischen Wachstum aufgenommen haben, ist mir dieser Blogpost eingefallen. Aus gegebenen Anlass poste ich ihn heute nochmals.
Wer noch tiefer in das Thema eintauchen möchte, dem sei meine Seminar Aufzeichnung zum posttraumatischen Wachstum empfohlen.
Liebe Grüße
Sandra Schlautmann
Schon einmal einen bitterbösen Brief aus dem Briefkasten gefischt – der vielleicht furchtbare Konsequenzen mit sich bringen könnte – oder auch nicht… Oder: Schon einmal das Gefühl gehabt, ungewollt schwanger zu sein? Pille vergessen und zu spät bemerkt? Schock und Panik?
Oder: Schon einmal einen Riesen-Bock im Job geschossen, so heftig, dass sich Angst und Panik breit machte – wie sage ich’s dem Chef und was passiert dann?
All dies sind Beispiele für klassische kleine „Alltagswunden“. Jeder von uns kennt sie: Man befindet sich in einer schier ausweglosen Situation. Doch dann, manchmal geschieht es, …entpuppt sich genau diese Situation als Chance. Beispielsweise schärft sich unser Blick für das, was für uns wirklich wichtig ist. Oder wir intensivieren unsere Beziehungen: Wer ist für uns da, hilft uns, lenkt uns ab in solchen Situationen? Oder wir sehen neue Wege und Perspektiven.
Wunden in der Seele – posttraumatischer Wachstum
Was ich gerade noch im Kleinen beschrieb, an Beispielen für Alltagswunden, das finden wir auch im Großen wieder. Nämlich dann, wenn wir größere traumatische Erlebnisse zu verarbeiten haben.
Denn:
Ganz egal, ob es sich um Wunden des Alltags handelt oder um eine PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung), handelt sich immer um Wunden in der Seele.
„Trauma“ bedeutet im Griechischen nichts Anderes als „Wunde“
So hinterlassen viele Erlebnisse in unserer Seele Narben, Verletzungen. Sie können sehr traumatisch sein.
Dazu gehören auch Trennungen, Krankheiten, Jobverlust und finanzielle Bedrohungen. Es muss nicht gleich ein Kriegserlebnis sein.
Vielleicht wurde auch Ihr Leben durch Traumatisierungen schwer beeinträchtigt. Und dennoch können Sie einen Ihrer Situation angemessenen und angenehmen Zustand erreichen.
Aus dem Leben gegriffen – ein Fallbeispiel:
Die Bekanntschaft mit Herrn J.
Ich lernte Herrn J. vor geraumer Zeit in einem nicht-beruflichen Kontext kennen. Fast nebenbei erfuhr ich, dass Herr J. in jugendlichen Jahren seinen Vater durch Gewalteinwirkung verlor. Er wurde wortwörtlich zu Tode geprügelt. Nach mehrmonatigem Koma und Bangen aller Angehörigen verstarb er.
Dass dieses traumatische Erlebnis prägt und beeinflusst, dürfte Ihnen bewusst sein: Ich erfuhr von Schmerzen, Leid und Trauer. Aber auch von Auswirkungen auf die Berufswahl, von beeinflussten Werten und Moralvorstellungen und von veränderten Rollen in der Familie.
Herr J. wirkte geprägt, selbstverständlich, aber lebensfroh, gefasst, das Erlebte verarbeitet und einsortiert, geerdet usw.
Herr J. schien an all dem auch ein Stück weit gewachsen zu sein.
Das, was Herr J. hier erlebt hat, nennt sich posttraumatischer Wachstum.
Dieser Begriff wurde v.a. von Calhoun & Teschedi in den 90er Jahren geprägt (auch Posttraumatic Growth genannt). Er beschreibt ein Element der Traumatherapie und legt den Fokus auf die Ressourcenorientierung.
Kürzlich kreuzten sich unsere Wege erneut –Herr J. machte einen sehr aufgewühlt-desolaten Eindruck.
Herr J. berichtete, dass ein innerbetrieblichen Businesscoach durch seinen Chef engagiert sei, der zur Weiterentwicklung der Firma, in der er arbeitete, beitragen sollte.
Wir alle sind Menschen und keine Maschinen – Gefahr und Wachstumschancen trotz Trauma und Retraumatisierung
Ich muss leider immer wieder erleben, dass speziell im Businesscoaching vielen Kollegen nicht klar zu sein scheint, dass ihnen dort keine „Maschine“ gegenüber sitzt, sondern ein Mensch mit Persönlichkeit, Prägungen und, ja, evtl. auch mit traumatischem Hintergrund. Die Arbeitskraft lässt sich schlichtweg nicht losgelöst von ihrer Prägung, ihren Werten, ihren Glaubenssätzen und ihren Triggern betrachten und zum „Funktionieren bringen“. Denn genau diese Dinge nehmen Einfluss auf die Arbeitshaltung, Konzentration, auf das innerbetriebliche Denken und somit auf den wirtschaftlichen Wachstum der Firma.
Wenn ein Businesscoach nicht allumfassend ausgebildet ist, kann das Wunden aufreißen, auch die scheinbar längst verheilten Narben. Es kann Schmerzen und Erinnerungen wecken, es kann wieder alles hochkommen. Diesen Prozess nennt man Retraumatisierung.
So geschah es auch bei Herrn J.: Im Businesscoaching- Prozess wurden Glaubenssätze und Trigger angesprochen, die dazu führten, dass sich Herr M. in einer Retraumatisierung wiederfand: Flashbacks, Panikattacken und Trigger (z.B. beim Fernsehen) sind nur Beispiele seiner Reaktion auf das eigentliche Businesscoaching.
Eine Retraumatisierung ist nichts Schönes, es schmerzt, wühlt auf, weckt Erinnerungen, verwirrt, ja zerstört vielleicht auch das bis dato Aufgebaute. Und, ja, eine Retraumatisierung ist ein Arschloch.
So paradox es klingen mag: Durch Trauma und Verletzung kann Gewinn und Wachstum entstehen.
Herr J. wurde durch das Wiederhochholen seiner alten traumatischen Erfahrung förmlich dazu herausgefordert, sich dem Schmerz und dem Leid zu stellen. Um zu verstehen. Auch sich selbst. Um dann daran zu wachsen.
– Gemeinsam mit seinem Businesscoach und mir wurde Herr J. sich seiner eigenen Stärke bewusst: Wir formulierten Ressourcen und herausragende Eigenschaften, die ihm sowohl privat als auch im beruflichen Kontext für Klarheit und eine Richtung sorgten.
- Herr J.s Blick schärfte sich für das, was ihm wichtig ist: Sein Bewusstsein für das für ihn Wesentliche war geschärft. Er reflektierte mit uns, wieder sowohl im Privaten als auch im beruflichen Kontext das, was für ihn wichtig ist. Für mehr Sinnhaftigkeit.
- Außerdem entdeckte Herr J. neue Möglichkeiten und Perspektiven für seinen (beruflichen) Erfolg. Aber auch, wie er sein Privatleben reicher gestalten kann.
Herr J. erfährt also ein zweites Mal in seinem Leben einen posttraumatischen Wachstum.
Immer dann, wenn wir solche Entwicklungsprozesse wie die des Herrn J. beobachten oder auch die aus unseren ersten kleineren Fallbeispielen, ist dies ein Zeichen der Verarbeitung des Traumas sowie der Ressourcenorientierung.
„Ganz klar lässt sich aus der Forschung zum Thema Traumatic Growth der Schluss ziehen, dass man nicht lebenslänglich unter Traumata leiden muss. Menschen verfügen über erstaunliche Kräfte der Heilung und Regeneration.“ (Reddemann u. Reddemann 2006, S. 155)
Es ist also nachweislich so, dass bei einer enorm hohen Prozentzahl aller Traumatisierten neben all dem Schmerz und Leid auch immer mindestens ein Anzeichen an posttraumatischem Wachstum sichtbar ist.
Und somit ist (Re-) Traumatisierung eben doch nicht immer nur ein Arschloch.
Oder anders ausgedrückt: Dieser Artikel soll Hoffnung und Perspektiven schenken. All denjenigen Lesern, die unter Traumatisierungen leiden. Und auch all den Angehörigen traumatisierter Menschen, die ebenso mitleiden.
Selbstcoachingtipp
Sie möchten wissen, ob auch Sie aus der Not eine Tugend gemacht haben und auch einen posttraumatischen Wachstum erfahren konnten?
Hier folgen für Sie nun Profi-Übungen für den Privatgebrauch in Anlehnung an Herrn J.s Fallgeschichte und an die fünf Bereiche des Wachstums nach Calhoun & Tedeschi.
Wie es geht:
- Sie können diese Fragen ganz in Ruhe mit sich allein beantworten, aber genauso gut mit Ihrem Partner oder Freund.
- Bitte nehmen Sie sich Zeit.
Schreiben Sie gern Ihre Gedanken auf, das trainiert Ihr Gehirn zusätzlich. - Wenn Sie mögen, beantworten Sie die Fragen gern in regelmäßigen Abständen erneut. Das schafft Bewusstsein für Ihren eigenen posttraumatischen Wachstum – und Sie werden weiter wachsen.
1) Stärken als Wegweiser
Was halten Sie selbst für Ihre Stärke, herausragende Eigenschaft? Woraus schöpfen Sie Kraft? Was können Sie besonders gut, vielleicht auch seit Ihrem traumatischen Erlebnis? Können Sie dieses Wissen als Wegweiser für Ihr Leben nutzen? Vielleicht haben Sie in Ihrer Krisensituation spüren, dass beispielsweise das Zuhören Ihre Stärke ist – wie können Sie dies jetzt nutzen?
2) Des Pudels Kern
Wissen Sie, was für Sie das Wesentliche in Ihrem Leben ist? Was lieben Sie, was gibt Halt, worauf kommt es in Ihrem Leben für Sie an? Vielleicht ist es das Geld? Oder ein Oasenmoment vor dem Kamin?
3) Spreu und Weizen
Wie denken Sie über Ihre sozialen Kontakte? Wer stand in Krisenzeiten an Ihrer Seite? Wer sorgt für Halt, Stabilität, Geborgenheit? Das kann von der Oma bis zum Chef jeder sein. Wie intensiv pflegen Sie diese Kontakte?
4) Perspektiven
Brachte Ihr traumatisches Erlebnis vielleicht eine Orientierungshilfe für Ihren Lebensweg mit? Im Fall von Herrn J. war es damals die angestrebte Ausbildung. Was ist es bei Ihnen?
5) Sinnhaftigkeit
Was gibt Ihrem Leben einen Sinn? Ist es der Hund? Die alleinstehende Oma? Oder der berufliche Lebensinhalt? Hat sich Ihr Lebenssinn nach Ihrer Krise verschoben, wie nehmen Sie ihn davor und danach wahr?
Wichtige Abschlussbemerkungen:
Dieser Artikel soll nicht verharmlosen oder schön reden. Bitte seien Sie sich der Tragweite und der Schwere so manch eines Traumas, speziell der komplexen Traumatisierungen, sehr bewusst. Ich empfehle immer eine Form der Traumatherapie beim Therapeuten Ihres Vertrauens.
Auch von bewusster Retraumatisierung rate ich mehr als ab, im Gegenteil, ein guter Therapeut ist, ebenso wie ich, um die Vermeidung dessen sehr bemüht.
Autor: Sandra Schlautmann
Thema: Posttraumatisches Wachstum
Webseite: http://www.wachgecoacht.de
Autorenprofil Sandra Schlautmann:
Heilpraktiker f. Psychotherapie m. Schwerpunkt Traumatherapie
ttps://www.ratgeber-lifestyle.de/beitraege/persoenlichkeitsentwicklung/posttraumatisches-wachstum.html