1) Sind wir nicht alle ein bisschen Trauma?
In jedem Leben, auch in meinem, kommt es zu Höhen und Tiefen, zu großen und kleinen Wunden. Am Körper. Aber auch an Geist und Seele. Manche Erlebnisse verletzen tief. Sehr tief. Anderen kratzen nur an der Oberfläche.
Wer also denkt, sein Leben verliefe glatt und frei von prägenden Schicksalsschlägen, der irrt sich gewaltig. Warum das so ist?
2) Wissen-schafft
Das weiß die Wissenschaft nur bedingt.
Welche Erlebnisse verletzten und welche nicht?
Der Eine fällt in ein Wespennest – und traut sich fortan nicht mehr aus dem Haus, überrollt von Angst und Panik.
Der Andere verliert auf schrecklichste Weise seine Angehörigen. Und schafft es, das Leben mit einem Herzenslächeln zu genießen.
In der Psychotherapie spricht man gern von „multifaktoriell“. Was bedeutet, dass viele Faktoren gleichermaßen dafür verantwortlich sind, ob und wie sehr uns etwas tief verletzt.
3) Was ist das eigentlich, was uns da schmerzt?
Der Begriff „Trauma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet nichts Anderes als „Wunde“. Genauso, wie es für körperliche Krankheiten wie Grippe oder körperliche Traumata wie einen Armbruch Diagnosekriterien und einen Codierungsschlüssel gibt, gibt es das auch für seelische Wunden. Sie sind in der ICD-10 im F-Bereich codiert.
4) Ein psychisches Trauma kann man nicht röntgen
Sie müssen wissen: eine seelische Wunde, die kann man nicht röntgen. Und auch klassische Merkmale wie Husten, Schnupfen, Heiserkeit sind bei seelischen Traumatisierungen doch irgendwie subjektiv. Die ICD-10 versucht, Krankheiten griffig und diagnostizierbar zu machen. Das ist auch gut so. Für Mediziner und Krankenkassen. Ich möchte jedoch kritisch fragen: Bestimmt so die Definition und die Krankenkasse das tatsächlich, subjektiv empfundene Leid? Im Trauma-Coaching ist das anders. SIE sind der Mittelpunkt, ihre subjektive Empfindung. Ganz egal, ob ihr Trauma ein Verlust- oder Missbrauchsthema ist. Oder ob Sie sich in sich selbst gefangen fühlen, weil es draußen Wespen gibt.
In der modernen Fachliteratur verbreitet sich diese Sichtweise zunehmend, wir sprechen von einem Traumaspektrum.
5) Zahlen-Daten-Fakten
Laut ICD-10 ist nur dann jemand wirklich traumatisiert (PTBS), wenn der Befindlichkeit ein außergewöhnliches Ereignis vorangegangen ist. Das Register spricht von Missbrauch, Unfall, Todesangst, also nur von objektiv betrachteten „Schlimmergehtsnimmer-Erlebnissen“.
Im Klartext heißt das für alle wunderbaren Paragraphenreiter:
„Diese (PTBS) entsteht als (….) Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Hierzu gehören eine durch Naturereignisse oder von Menschen verursachte Katastrophe, eine Kampfhandlung, ein schwerer Unfall oder Zeuge des gewaltsamen Todes Anderer oder selbst Opfer von Folterung, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderen Verbrechen zu sein.“
6) Wer bestimmt also wirklich, ob uns etwas seelisch schmerzt?
Das bedeutet im Klartext: Nur dann, wenn das Ereignis nach den Kriterium des Gremiums heftig genug ist, werden die dazugehörigen Symptome unter PTBS klassifiziert.
Kann es somit sein, dass Menschen die leiden nicht selbst sagen können, dass dem so ist?
Nicht SIE bestimmen, ob Sie (seelisch) krank sind. Nicht Sie bestimmen, ob Ihnen angemessene Hilfe zuteil wird. Sondern Krankenkassen, Ärzte, Diagnoseschlüssel tun das.
7) Kleiner objektiver Auslöser und dennoch großer subjektiver Trauma-Schmerz?
Ja, das geht. Und genau dies ist hier der Grund für diesen Artikel. Denn: Das erlebe ich oft.
– Was ist beispielsweise mit Schulängsten, die sich im Kind so krass anfühlen, dass Todesängste entstehen? Sie sind dann nicht messbar (nicht zu röntgen, Sie erinnern sich) und somit wird speziell Kindern oft nur gesagt, es sei doch nicht schlimm und sie sollen sich mal nicht so anstellen. So rutschen selbst Kinder in eine Retraumatisierung. Die Ursache für die Angst wird nicht erkannt. Das Problem wird nicht gelöst.
– Was ist mit dem Businessmenschen, der es nicht schafft, vor seinem Team ohne Panik zu sprechen? Weil er sich betäubt und gelähmt fühlt, teilnahmslos und voller Furcht?
– Was ist mit der fantastischen Frau, die immer nur an dieselben furchtbaren Typen von Partner gerät? Weil sie irgendetwas magisch anzieht und sie noch gar nicht weiß, warum?
Hinter all diesen Erscheinungsformen können sich „Themen dahinter“ befinden. Traumatische Erlebnisse, groß oder klein.
Die dazu führen, dass Menschen sich gefangen fühlen, Opfer ihrer selbst, ihren Emotionen ausgeliefert.
Fazit: Polarisierend on point:
Ich bin dagegen. Dagegen, ein Trauma klassisch-konservativ nach ICD-10 zu kodieren.
Und komplett dafür, den Menschen, seinen Schmerz und seine Wunde in den Mittelpunkt zu stellen.
Den Stachel zu ziehen. Zu heilen. Um dann, mehr noch, wieder ein Lächeln in sein Leben zu zaubern.
Wie gut, dass ich mit meiner Meinung nicht allein da stehe. Fachleute wie Gesichen und Linden sowie Scaer sind ebenfalls skeptisch.
Für Neugierige zum Weiterlesen:
Gensichen und Linden kritisieren die Funktionalität der ICD-10, Robert Scaer beschreibt das Traumaspektrum in seinem Fachbuch.