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Wenn die Kinderseele leise um Hilfe ruft: Legasthenie, Dyskalkulie und Sekundärsymptomatik

In unserer Praxis sehen wir sie oft: Kinder, die auf den ersten Blick „nur“ eine Herausforderung mit Zahlen und Buchstaben haben,
und dann doch noch ganz andere Themen im Gepäck haben:
Wutausbrüche, Ängste. Bauchschmerzen, Nägelkauen. Schulverweigerung, Rückzug. Tränen aus dem Nichts.

Wenn die Seele nicht mehr weiter weiß

Ich gestehe: Dieses Thema liegt mir besonders am Herzen.
Denn es geht in meiner Arbeit nicht allein um Buchstaben oder Zahlen. Nicht nur um Diagnosen oder Therapien.
Es geht um Menschen. Um das, was sie fühlen. Und um das, was sie oft nicht sagen können.

Gerade bei Kindern mit Legasthenie / Dyskalkulie zeigt sich das deutlich:
Wenn der Druck zu groß wird, wenn sich ein Kind nicht verstanden fühlt, dann reagiert die Psyche.
Nicht mit Worten – sondern mit Verhalten.

Und genau dann sprechen wir von sogenannten Sekundärsymptomen.

Was sind Sekundärsymptome eigentlich?

Stell dir vor: Ein Kind wird immer wieder mit seinen Schwächen konfrontiert. In der Schule, bei den Hausaufgaben, im Gespräch mit Erwachsenen.
Was bleibt da irgendwann übrig?
Scham. Rückzug. Wut.

Und der Körper? Der reagiert ebenfalls.
Nicht selten mit:

  • Bauch- oder Kopfschmerzen (vor allem morgens)
  • Schulunlust oder kompletter Verweigerung
  • Träumereien, Rückzug oder „Clownereien“
  • Wutausbrüchen, Aggressionen
  • häufigen Infekten oder sogar Einnässen

All das sind keine „Unarten“. Keine absichtlichen Spielchen.
Sondern ganz oft: Schutzmechanismen.

Was steckt dahinter? Ein Blick in die Tiefen der Psyche

Vielleicht kennst du das auch von dir selbst:
Du bist frustriert, aber kannst es nicht direkt benennen. Also wirst du lauter. Oder du ziehst dich zurück.
Unsere Psyche sucht sich Wege, um mit Druck umzugehen.

Bei Kindern ist das ganz ähnlich – nur eben noch unbewusster.

Wenn der Verstand keine Lösung mehr sieht, übernimmt das Unterbewusstsein.
Und genau da setzt auch die Erkenntnis von Anna Freud an.

Anna Freud: Die Sprache der Seele verstehen

Anna Freud, die Tochter von Sigmund Freud, hat sich intensiv mit kindlichen Schutzmechanismen beschäftigt.
1936 veröffentlichte sie ihr berühmtes Werk „Das Ich und die Abwehrmechanismen“.
Darin beschreibt sie, wie Kinder (und auch Erwachsene) sich seelisch schützen – oft ohne es zu merken.

Begriffe wie Verdrängung, Projektion, Regression stammen aus dieser Zeit – und sind heute aktueller denn je.

Denn genau diese Mechanismen begegnen uns tagtäglich im Schulalltag:

  • Das Kind mit Legasthenie klagt regelmäßig über Bauchweh? → Somatisierung
  • Es bricht in Tränen aus, sobald es laut lesen soll? → Verdrängung und Angst
  • Es sagt: „Die Lehrerin ist blöd!“ → Projektion
  • Es verhält sich jünger, kindlicher, klammert? → Regression
  • Oder es spielt den Klassenclown, um nicht vorlesen zu müssen? → Vermeidung durch Ablenkung

Was bedeutet das für uns als Eltern, Lehrer oder Therapeuten?

Ganz einfach: Wir dürfen – wir müssen – tiefer schauen.
Verhalten nicht nur bewerten, sondern verstehen lernen.

Denn diese Reaktionen sind keine Schwächen.
Es sind Strategien, um zu überleben. Um mit Druck klarzukommen. Um sich zu schützen.

Studien zeigen: Kinder mit Legasthenie erleben oft eine dauerhafte seelische Belastung.
Die Angst vor dem Scheitern. Die ständige Erinnerung an das eigene „Nichtkönnen“.
Und mit jedem Tag wächst der emotionale Rucksack, den sie tragen müssen.

Wenn wir also nur auf das Schulproblem schauen – und die Seele übersehen – verpassen wir das Wichtigste.

Was hilft wirklich?

  • Hinschauen. Zuhören. Ernst nehmen.
  • Eine sichere Umgebung schaffen, in der Fehler sein dürfen.
  • Nicht nur fördern, sondern auch verstehen.
  • Psychotherapeutische Begleitung – und manchmal auch eine gute Portion Geduld.
  • Und immer wieder: Empathie. Auf Augenhöhe.

Denn: Ein Förderplan ersetzt kein Mitgefühl.
Aber Mitgefühl ohne Struktur hilft auch nicht weiter.

Wenn wir beides zusammenbringen – das Fachliche und das Menschliche –
dann, und nur dann, kann aus innerem Rückzug wieder Vertrauen entstehen.


Zum Schluss

Verhalten ist oft der verschlüsselte Ausdruck innerer Not.
Wenn wir bereit sind, diese Sprache zu lernen, können wir helfen – echt und nachhaltig.
Und vielleicht schaffen wir es dann gemeinsam, dass Schule wieder ein Ort wird, an dem Lernen mit Freude verbunden ist.


 

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