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Die Übung zum Blogartikel, s.u.

Wenn der Urlaub nicht nur Erholung bringt: Ferien zwischen Freiheit und Überforderung

Ferienzeit – das klingt nach Erholung, Auszeit, Sonne auf der Haut und barfuß durchs Gras laufen. Für viele ist genau das auch Realität. Doch wer mit Ängsten, Depressionen oder den Folgen von Traumata lebt, erlebt Ferienzeiten oft ganz anders.

Plötzlich ist da viel Raum. Raum, in dem sonst der Alltag regiert. Raum für Gedanken, Erinnerungen, Gefühle. Raum, in dem innere Unruhe, Leere oder alte Verletzungen lauter werden können. Manche berichten, dass sie ausgerechnet im Urlaub Schlafstörungen bekommen, dass alte Symptome aufflammen, oder dass sie sich unerklärlich traurig, reizbar oder angespannt fühlen. Warum ist das so?

Der Körper fällt aus dem „Funktionsmodus“

Im Alltag sind wir oft „gut unterwegs“ – zumindest scheinbar. Wir haben unsere Strategien. Routinen, Termine und Verpflichtungen halten uns in einem gewissen Takt. Neuropsychologisch betrachtet ist das ein Zustand erhöhter Anspannung, oft getragen vom sympathischen Nervensystem, also dem Teil unseres autonomen Nervensystems, der für Leistung, Reaktion und Durchhalten zuständig ist.

Im Alltag besteht zudem Kontakt zu einem Halt gebenden Netzwerk: KollegInnen, Freunde, Familie. Aber auch zu Coaches und TherpeutInnen. Wir fühlen uns sicherer. Trotz all der Päckchen, Ängste und Co, die wir haben. Es fällt so viel leichter, die Strategien, manchmal auch Übungen aus der Therapie, abrufbar zu haben.

Kommt nun der Urlaub, fällt dieser äußere Rahmen weg. Plötzlich ist Zeit. Und mit der Zeit tauchen Dinge auf, die im Alltag vielleicht überlagert waren: Unverarbeitete Gefühle, Körperreaktionen, Gedanken. Der Körper schaltet nicht automatisch in einen Entspannungsmodus – besonders dann nicht, wenn frühere Erfahrungen mit Unsicherheit, Bedrohung oder Kontrollverlust verknüpft sind.
Je mehr solch Unverarbeitetes aus dem Unterbewussten Raum einnimmt, desto weniger können wir bewusst handeln. Desto weniger können wir auf unsere Skills uns Strategien bewusst zugreifen.

In der somatischen Therapie spricht man hier von einer „Entladung unter sicherem Rahmen“. Doch wenn dieser Rahmen – durch eine fremde Umgebung, fehlende Struktur oder große Erwartungen an die Erholung – fehlt, kann genau das Gegenteil passieren: innere Überforderung.

Das Nervensystem versteht keine Ferien

Traumafolgen, Ängste oder depressive Muster sind tief im Nervensystem verankert. In der traumatherapeutischen Arbeit (z. B. EMDR oder Somatic Experiencing) geht es genau darum, diese gespeicherten Informationen schrittweise zu verarbeiten und das Nervensystem zu regulieren.

Wenn nun in den Ferien Trigger auftreten – sei es durch Nähe, Stille, Erinnerungen oder auch nur durch das Wegfallen gewohnter Ablenkung – kann das Nervensystem in einen Alarmzustand geraten. Das ist kein Rückfall, sondern eine Reaktion auf fehlende Regulation.
Gunter Schmidt bezeichnet dies gern als „Ehrenrunde“, die uns hilft, in die Regulation zu kommen.

 

Chancen zur Integration – aber mit Achtsamkeit

Trotz (oder gerade wegen) dieser Herausforderungen können Ferien auch eine Chance zur Heilung sein. Wenn Raum entsteht, können auch neue Erfahrungen gemacht werden. Körperorientierte Übungen, achtsame Selbstwahrnehmung, kleine Rituale, klare Tagesstrukturen oder Gespräche mit vertrauten Menschen können helfen, diesen Raum zu halten.

Ferien müssen nicht immer leicht sein – aber sie können zu wertvollen Selbsterfahrungszeiten werden, wenn wir sie nicht überfrachten und uns erlauben, auch in der Stille nicht perfekt funktionieren zu müssen.


Ein kleiner Anker: Die Boxatmung

Wenn sich innere Unruhe zeigt, die Gedanken kreisen oder körperliche Anspannung spürbar ist, hilft es, dem Nervensystem einen sicheren Rhythmus zu geben. Eine einfache, aber wirksame Methode dafür ist die sogenannte Boxatmung (auch „4-4-4-4-Atmung“ genannt).

Sie funktioniert so:

  1. Atmen Sie tief durch die Nase ein, während Sie bis vier zählen.
  2. Halten Sie den Atem an, und zählen Sie dabei ebenfalls bis vier.
  3. Atmen Sie langsam durch den Mund aus, während Sie bis vier zählen.
  4. Halten Sie erneut den Atem an, und zählen Sie wieder bis vier.
  5. Wiederholen Sie diese Sequenz 7–10 Mal.

💡 Tipp: Setzen Sie sich stabil auf einen Stuhl oder auf den Boden. Spüren Sie Ihre Sitzfläche. Es geht nicht ums „richtig“ machen – sondern ums Wahrnehmen und Beruhigen.

Diese Atemtechnik stammt ursprünglich aus der Stressbewältigung, wird aber heute auch in der Psychotherapie, EMDR-Arbeit und Traumabehandlung eingesetzt, um Menschen zu helfen, in kritischen Momenten wieder ins Hier und Jetzt zurückzufinden.


Fazit: Ferien dürfen alles sein – auch ambivalent

Es ist okay, wenn die Urlaubszeit nicht nur leicht und sonnig ist. Es ist okay, wenn alte Gefühle aufkommen oder der Körper nicht einfach in den „Entspannungsmodus“ schaltet. Das ist kein Versagen, sondern ein Zeichen dafür, dass etwas in Ihnen ernst genommen werden möchte.
Ich möchte nochmal Gunter Schmidt zitieren:

„Das, was wir Rückschritt nennen, ist oft eine Ehrenrunde, die unser inneres System braucht, um wirklich weitergehen zu können.“
Gunter Schmidt

Gehen Sie weiter. Wenn Sie sich selbst in diesen Zeilen erkennen, seien Sie freundlich mit sich. Diese Ferien, dieser Urlaub, bietet Ihnen Wachstumsschancen. Vielleicht ist gerade das die wichtigste Erfahrung in diesen Ferien: Sich selbst sein lassen dürfen – Schritt für Schritt.


 

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